Fakten und Hypothesen zur Fortpflanzung von Riesenkalmaren

Bisher gelang es uns nicht, geschlechtsreife Riesenkalmare (Architeuthis) lebend in ihrem natürlichen Lebensraum, geschweige denn bei der Paarung, zu beobachten oder gar zu filmen. Andererseits kann aus bestimmten Strukturen, die an Körpern einzelner Tiere einschließlich des Stralsunder Exemplars entdeckt wurden, einiges über ihre ungewöhnliche Fortpflanzungsmethode und eventuell auch etwas über ihr Paarungsverhalten abgeleitet werden.

Einige der gefundenen und untersuchten weiblichen Riesenkalmare trugen mehrere etwa 10 cm lange Spermienbehälter (sog. Spermatophoren oder präziser Spermatangia) unter der Haut der Arm- und Tentakelansätze, des vorderen Mantelteils sowie des Kopfes (zur Orientierung s. Körperbau eines Kopffüßers). Abbildung 1 zeigt die Basis eines Tentakels einer Architeuthis mit unter der Haut liegenden (rechts) und teilweise aus dem Gewebe herausragenden Spermatophoren (Bildmitte).

Abb. 1: Ansatz eines Tentakels einer Architeuthis mit unter der Haut liegenden (rechts) und teilweise aus dem Gewebe herausragenden Spermienbehältern (Bildmitte).

Ganz offenbar implantiert das Männchen dem Weibchen während der Paarung die über einen muskulösen Penis abgegebenen Spermienbehälter, möglicherweise unter Zuhilfenahme einer Hartstruktur an dessen Spitze. Wie von dort aus der Inhalt der Behältnisse, die Spermien, während der Eiablage die Eier erreicht, ist gegenwärtig noch völlig ungeklärt.

Vereinzelt wurden auch männliche Exemplare gefunden, die in Arme und Kopf implantierte Spermienbehälter aufwiesen. Die wahrscheinlichste Erklärung für dieses Phänomen ist, dass sich ein solches Männchen buchstäblich „in den eigenen Fuß schoss". Eine weitere Erklärung wäre, dass mehrere Männchen gleichzeitig versuchten, sich mit einem Weibchen zu paaren, wobei ein Männchen ein anderes versehentlich mit Spermatophoren versah. Drittens besteht die Möglichkeit, dass ein Exemplar durch den enormen Wasserstau im Netzsteert während des Fanges so zusammengepresst wurde, dass es sterbend Spermatophoren in sein eigenes Gewebe injizierte.

Beim vorliegenden geschlechtsreifen Männchen fanden sich nun erstmals Spermienbehälter im Gewebe einer Körperregion, die wahrscheinlich außerhalb der Reichweite des eigenen Penis liegt: am hinteren Ende des Mantels (Abb. 2: Übersicht; Abb. 3: Details). Bei einer Gesamtlänge des Mantels von mehr als einem Meter ragt der insgesamt rund 80 Zentimeter lange Penis 40 Zentimeter aus dem Mantel heraus. Zur Lage des Geschlechtsteils s. Abb. 2 auf www.tintenfische.com/riesenkalmar.htm (längliche Struktur rechts neben dem Kopf). Wenn nun angenommen wird, dass das Tier sein Fortpflanzungsorgan in Gegenrichtung (in Richtung Mantelspitze) wenden kann, dürften Spermatophoren etwa bis der Hälfte der Länge des Mantels zu finden sein. In diesem Fall liegt die vordere Grenze der Region der implantierten Spermatophoren jedoch 29 cm entfernt von der Spitze des versuchsweise in Richtung Mantelhinterende orientierten Geschlechtsorgans.

Abb. 2: Hinteres Ende des Mantels des Stralsunder Exemplars. Der Finger weist auf den Bereich mit implantierten Spermienbehältern.

Es wäre möglich, dass der Penis eines Riesenkalmars sehr dehnungsfähig ist. Dann wäre bei o. g. Orientierung eine Selbstimplantation möglich. Ebenso, wenn das Tier so im Steert des Netzes „zusammengefaltet" wurde, dass sein Spermatophoren abgebendes Geschlechtsteil unabhängig von einer etwaigen Dehnfähigkeit diese Region erreichte.

Abb. 3: Stralsunder Exemplar. Nahaufnahme des Bereich mit implantierten Spermienbehältern. Oberste Hautschichten entfernt; eine weiße, schlangenartig gewundene Spermatophore zuoberst, weitere in tieferen Schichten liegend. Weder Arme, Tentakel noch Kopf wiesen implantierte Spermienbehälter auf.

Sollten diese Möglichkeiten nicht zutreffen, muss geschlossen werden, dass die Implantation von Spermatophoren in das Gewebe durch einen Artgenossen vorgenommen wurde. Alle Spermienbehälter, die bisher in Geweben männlicher Architeuthis gefunden wurden, befanden sich innerhalb der Reichweite des eigenen Geschlechtsteils.

Die Implantationsregion liegt extrem weit von den Bereichen entfernt, in denen sonst bei Weibchen (und ebenfalls Männchen) injizierte Spermienbehälter gefunden werden (Ansätze von Armen und Tentakeln, vorderer Mantelteil und Kopf). Würden einem Weibchen Spermatophoren unter die Haut des Mantelhinterendes gesetzt werden, wäre eine nachfolgende Befruchtung seiner Eier wohl nur sehr bedingt möglich, da die Spermienbehälter weit entfernt von den Öffnungen des Geschlechtstraktes und des unterhalb des Kopfes befindlichen Trichters liegen. Über letzteren erfolgt sehr wahrscheinlich die Abgabe der Eier. Dies würde erklären, warum die Spermienbehälter meist in der unmittelbaren Umgebung der Trichteröffnung gefunden werden. Zur Lage von Geschlechtsöffnung und Trichter s. Körperbau eines Kopffüßers.

Es scheint im vorliegenden Falle also durchaus möglich, dass es während eines Paarungsversuches zweier Männchen mit einem Weibchen zur irrtümlichen Implantation von Spermatophoren in den hinteren Mantelteil des einen Männchens kam.

Sollten im Fortpflanzungsverhalten Sexuallockstoffe (sog. Pheromone) auf kurze Distanz keine Rolle spielen, wäre es letztlich außerdem denkbar, dass Männchen beim Treffen auf Artgenossen rein „auf Verdacht" hin sofortige Paarungsversuche unternehmen.

Dr. Steve O'Shea, der dem Deutschen Meeresmuseum das vorliegende Tier zur Verfügung stellte, geht davon aus, dass Paarungsgründe existieren, in denen sich die Tiere zu bestimmten Jahreszeiten versammeln.

Dort könnte es von Vorteil sein, möglichst schnell Paarungsversuche einzuleiten und dabei Irrtümer in Kauf zu nehmen, bevor vielleicht ein anderes Männchen zum Zuge kommt. Viele Wiederholungsmöglichkeiten zur Weitergabe der Gene gibt es in der dünn besiedelten Tiefsee nicht – offenbar leben Riesenkalmare wie die meisten Cephalopoden nur wenige Jahre und paaren sich erst am Ende ihres Lebens innerhalb einer relativ kurzen Zeit.

Gegenwärtig wird geprüft, ob genetische Analysen (ein sog. Genetischer Fingerabdruck) zur endgültigen Klärung des vorgefundenen Phänomens beitragen können.

 

 

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© 2004 Volker Christian Miske. Alle Rechte vorbehalten. Letzte Änderung: 17.01.05.